Wir üben Integration im Kleinen

Ich kann es nicht mehr zählen, wie oft ich in den letzten Tagen und Wochen gelesen habe, dass die ganzen "Gutmenschen" doch die Flüchtlinge mit nach Hause nehmen sollen. Bei uns hat sich tatsächlich die Gelegenheit ergeben und wir haben es getan. Das Rudel wurde ein weiteres Mal um ein Menschenkind erweitert - einen 16jährigen syrischen Jungen, dessen Familie in Damaskus geblieben ist.

Die Geschichte wie es dazu kam, ist lang ... nur so viel: es war, wie immer hier, zum Ende hin eher kurz und schmerzlos. Ich kam Mittwochabend nach Hause und hatte mehrere Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Wir waren den ganzen Tag nicht zu erreichen. Am nächsten Morgen (also schon Donnerstag) dann ein Anruf, dass er ein Dach überm kopf benötigt und wir ihn Freitag kennenlernen und am Besten gleich mitnehmen können. What?

(Kurz als Hintergrundinfo: es wurden an dem Wochenende darauf einfach so viele Flüchtlinge erwartet, dass man den Schlafplatz benötigte.)

Dann spulten sich in meinem Kopf natürlich alle Möglichen Vorurteile ab: 16, der pubertiert, der ist sicher aufmüpfig, der raucht, ... bis hin zu, wenn es dumm kommt, räumt der mir die Bude aus ... ja lacht nur, aber so war das eben und ich will die ganze Geschichte schreiben.

 

Trotzdem brauchte da jemand Hilfe. Ich also Donnerstagabend mit einem Freund der Familie (der Waupapa war arbeiten) losgezogen, um ein Bett zu kaufen. Vor dem Treffen am Freitag war dieses Bett halb aufgebaut und unser Büro war halb leer geräumt. Mehr hatten wir nicht geschafft, aber wir waren auch nicht davon überzeugt, dass wir mit einem Familienmitglied mehr nach Hause fahren.

Sind wir aber. Nachdem wir ihn kennenlernten (grundsätzliche Fragen, wie Angst vor Hunden, Vorstellungen über die Zukunft ...wurden gleich geklärt), haben wir ihn, in Absprache mit dem Jugendamt, sofort mitgenommen, ... waren ein paar Lebensmittel einkaufen und haben erst einmal zusammen zu Mittag gegessen und uns ein wenig kennengelernt. Im Laufe dieser Gespräche haben wir dann festgestellt, dass noch viel zu tun ist an diesem ersten Tag. Er hatte nichts an Kleidung, als das, was er anhatte, das war dem Wetter nicht annähernd angepasst und das Büro musste zumindest erstmal übergangsweise bewohnbar gemacht werden.

Der kleine Zettel, ist von der ersten Deutschstunde mit dem Waupapa ... während ich und die Mini Mittagsschlaf hielten. Danach ...

... waren wir shoppen. Zumindest eine Grundausstattung musste her und ich duldete da auch keine Widerrede. Schließlich bin ich diejenige, die die wenigen T-Shirts und Hosen (von der Unterwäsche mal ganz abgesehen) dann andauernd Waschen muss. Das Bett haben die Jungs abends noch zusammengebaut und nach einem gemeinsamen Fernsehabend wurde es dann zum ersten Mal genutzt.

Ich wurde oft gefragt, ob ich keine Angst hätte ... wieso wir uns das antun und ob das nicht mega nervig ist. Ich bekomme ungefragt Argumente an den Kopf geworfen, wie ... "wo soll das alles noch hinführen", "das sind viel zu viele" ... Das mag alles sein - ich fühle mich nicht berechtigt, darüber zu entscheiden und ich bin zudem nur schwer in der Lage politische Entscheidungen zu beeinflussen. Aber ich kann ein Leben positiv verändern. Das liegt in meiner Macht.

Natürlich kann ich noch nicht auf lange Sicht sprechen, aber wir sind überzeugt davon, dass dieser junge Mann eine Chance verdient hat. Wir haben den Platz und die Möglichkeiten. Wieso sollen wir unser Glück nicht teilen. Er ist unheimlich dankbar und wissbegierig. Wo soll Integration besser funktionieren, als in einer deutschen Familie?

Hier läuft bisher auch alles bestens. Er hilft, beschäftigt sich gern mit der Mini und den Hunden, wir kochen gemeinsam und versuchen nun nach und nach Alltag in dieses neue Leben (für alle) kommen zu lassen. Montag werde ich ihn in der Schule anmelden und nach den Herbstferien herrscht dann noch mal ein anderer Takt.

Wir bekommen auch viel zurück ... heute zum Beispiel eine Schulung über die Nutzung von Gewürzen in Syrien und das Kochen wurde mir auch gleich abgenommen. Der Waupapa bekommt Gelegenheit sein Englisch zu nutzen und aufzufrischen ...

Natürlich muss nicht jeder gleich einen Flüchtling aufnehmen. Man kann sie auch über verschiedene Organisationen einfach nur zum Essen einladen oder eine Patenschaft übernehmen.

Ich habe zum Beispiel für mich gelernt ... einfach etwas mehr Geduld zu haben, wenn ich jemanden nicht sofort beim ersten Mal verstehe ... denn so wie unserem Schützling könnte es auch dieser Person gehen ... und ich habe gelernt, dass ich einige Vorurteile einfach total vergessen kann ... dass Muslime extrem sauber sind (das unabhängig von den Vorurteilen, aber ich habe selten jemanden gesehen, der sich SO oft die Hände wäscht).

... dass es (nicht selten) passieren kann, dass 16jährige auch einfach mal GAR KEIN Fleisch essen und auch, dass dieser junge Herr ordentlicher und strukturierter ist als ich selbst.

Vorurteile lassen sich nur durch Nähe abbauen. Ehrlich, wir alle sind gerade wohl nicht in der Lage etwas an der grundlegenden Situation zu ändern. Da sind Menschen die nach Deutschland strömen, die Hilfe brauchen und deren Leben WIR verändern können. Positiv oder negativ. Natürlich sind die vielleicht nicht alle "berechtigt" hier, nicht jeder ist Syrer, der auch einen syrischen Pass hat. (aber obliegt es mir über die Gründe zu entscheiden? Ich, die ich jeden Tag in mein warmes Bett zu meiner geliebten Familie falle und genug, wenn nicht gar zu viel, zu essen habe. Ich denke nicht.)

 

P.S.: Ich bin mir übrigens durchaus dessen bewusst, dass es nicht immer so einfach sein wird, einen 16jährigen pubertierenden Jungen im Haus und unter meiner Verantwortung zu haben. Wir sehen nicht alles durch eine rosarote Brille, aber ... irgendwie hab ich im Urin, dass das ein Kinderspiel wird, im Gegensatz zu unserer Mini, wenn sie dann in dem Alter ist. :P Ich werde berichten.

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Kommentare: 7
  • #1

    Jasmin (Montag, 19 Oktober 2015 20:12)

    toll...einfach nur toll!!!

  • #2

    Susanne (Freitag, 23 Oktober 2015 19:39)

    Gefällt mir sehr.

  • #3

    Katarina (Freitag, 23 Oktober 2015 20:32)

    Also ich finde, das sollte jeder machen. Aber macht nicht jeder. Daher finde ich den gebrauch des Wortes "Heldin" angebracht. Du bist meine persönliche Heldin, genauso wie alle anderen die jemandem ein Dach über dem Kopf bieten (können).

    Danke!

  • #4

    mamawunderlich (Freitag, 23 Oktober 2015 21:23)

    Ich finde großartig was ihr macht. Und manchmal hat man einfach im Gefühl das etwas klappt, und dann sollte man es auch einfach machen. Ich bin gespannt auf den weiterverlauf eurer Geschichte, und Wünsche euch alles gute.

  • #5

    Nicole (Samstag, 24 Oktober 2015 08:08)

    Wow! Das finde ich ganz toll, dass ihr das macht! Ich würde mir das wahrscheinlich nicht zutrauen, hier werden aber in nächster Zeit auch einige Heime für die elternlos reisenden Syrier gesucht.
    Ganz großes Lob an Euch! Wow!

    Liebe Grüße
    Nicole

  • #6

    Bärchenmama (Montag, 02 November 2015 19:07)

    Hey,
    ich bewundere sehr, was ihr macht! Gerade dadurch, dass ich beruflich mit Jugendlichen arbeite und auch mit jugendlichen Flüchtlingen zu tun hab, weiß ich, dass es immer mal wieder schwierige Zeiten geben wird. Nehmt alle Hilfe vom JA an, die ihr bekommen könnt, eventuell auch Trauma-Therapie oder ähnliches. Ich wünsche euch viel Glück, Spaß und schöne Momente! Lieben Gruß!

  • #7

    Jana (Dienstag, 03 November 2015 20:36)

    Echt starke Aktion! Respekt!